Ihr war nicht nach 'nach Hause gehen’,
nach leerem dunklem Haus, nach allein sein, nach Stille und
Einsamkeit, nach ....wonach war ihr dann eigentlich?
Als sie aus dem Kino kam, sah sie,
dass es geregnet hatte. Der Asphalt glänzte tiefschwarz,
fast wie Pech, doch es dampfte nach der Hitze des Tages nun
die Feuchtigkeit vom Boden. Nur ein paar Schritte und sie
wäre bei ihrem Auto. Nein, sagte sie sich. Nein. Der
Film hatte sie nicht aufgemuntert, erhofft hatte sie sich
Ablenkung, doch die Geschichte war auch ihre Geschichte. Zumindest
ein Teil davon.
Er war einfach gegangen. Vor drei Monaten.
Nach 21 Jahren Ehe. Er musste raus aus diesem Scheißleben,
sagte er. Er wollte noch einmal neu anfangen. Alleine neu
anfangen. Was glaubte er denn, wer sie war? Ein naives kleines
Mädchen? Alleine neu anfangen! Nie und nimmer! Sicherlich
steckte eine Frau dahinter, wahrscheinlich eine jüngere
als sie es war. Sie hatte ja auch die Kinder großgezogen
und dabei auf eine eigene Karriere verzichtet. Sie war immer
für ihn da gewesen, für die Familie, hatte eigene
Interessen den seinen hintan gestellt. Wie es sich gehörte!
Wie jung waren sie gewesen, jung und verliebt, bis über
beide Ohren. Und dann der Sohn, eine schnelle Heirat, weil
die Eltern drängten, zwei Jahre später eine Tochter,
Bilderbuchfamilie. Den Rücken hatte sie ihm freigehalten
und er war die Karriereleiter rasch emporgeklettert. Abteilungsleiter,
dann die Idee, es alleine zu versuchen. Sich selbständig
machen wollte er. Widerspruchslos tat sie mit und erledigte
von nun an die Büroarbeit. Und sehnte sich manchmal nach
der Beständigkeit eines normalen Angestelltenverhältnisses
zurück. Ja, sicher, sie konnten sich viele Dinge leisten,
der Sohn studierte Medizin, die Tochter Architektur, beide
waren begeisterte Reiter und Daddy ließ sich nie knausern.
Auch sie kam ja nicht zu kurz. Wellnessurlaube, Golf spielen,
endlose Einkaufsbummel ohne schlechtes Gewissen – was
wollte sie mehr?
Das Leben wollte sie spüren! Das
Leben pur! Mit Gefühl und Sehnsucht, mit Lachen und Weinen,
mit fünf grade sein lassen und nicht immer perfekt sein
zu müssen.
Sie war am Auto vorbeigegangen. Keine
Ahnung, wo sie jetzt war. Musik drang an ihr Ohr. Die Klänge
eines Saxophons. Sie blieb stehen. Licht fiel vor ihr auf
den Gehsteig, es flirrte durchdrungen von Rauch. Einfach hineingehen.
Eine Bar, halb voll, ihr Blick blieb an dem Mann mit dem Saxophon
hängen. Eine unbestimmte Sehnsucht machte sich breit
in ihr, während sie lauschte. Noch immer stand sie halb
in der Türöffnung, merkte es gar nicht. 'Möchten
Sie sich nicht setzen, vielleicht etwas trinken?’ Die
Stimme riss sie unvermittelt aus ihren Gedanken. Sie nickte
und folgte dem Kellner zu einem kleinen Ecktisch, den Saxophonspieler
ließ sie nicht aus den Augen. Er stand lässig an
ein Klavier gelehnt. 'Was darf ich Ihnen bringen?’ Ohne
groß nachzudenken bestellte sie einen Campari Orange,
eigentlich war es egal, was sie trank, sie wollte diese Musik
in sich aufsaugen, dieses Klagen und die Höhen und Tiefen.
Er spielte gut, war noch jung, vielleicht ein Student, der
sich hier ein bisschen Geld dazuverdiente. Er spielte selbstvergessen,
schien seine Umgebung ausgeblendet zu haben, tauchte ein in
seine Musik. Als er irgendwann einmal seinen Kopf in ihre
Richtung drehte, schien sein Blick sie kurz zu erfassen, doch
er schweifte wieder ab, es war auch egal. Nur gedämpft
nahm sie nach und nach andere Geräusche in der Bar wahr:
das Stimmengewirr der wenigen Gäste, das Klingeln eines
Telefons.
Sie griff in ihre Tasche, zog ein Päckchen
Zigaretten heraus, suchte nach dem Feuerzeug, verdammt, sicher
lag es auf der Kommode im Flur zu Hause. Gut, dann eben keine
Zigarette. Achtlos ließ sie die Packung einfach auf
dem Tisch liegen. Sie nippte an ihrem Drink, auf einmal merkte
sie, dass die Musik zu Ende war. Das Saxophon lag auf dem
Klavier, der junge Mann war verschwunden. Und sie fühlte
sich verlassen, verlassener als je zuvor. Tränen rannen
über ihre Wangen, sie spürte sie nicht. Sie weinte
um ihre Jugend, um ihre Träume, ihre Sehnsüchte,
ihre kaputtgegangene Ehe, über das Leben, das mit einem
Mal so sinnlos erschien. 'Ich glaube, das hier könntest
du brauchen!’ Eine Hand hielt ihr ein Taschentuch hin,
jemand setzte sich zu ihr, sie fühlte sich unfähig,
auch nur ein Wort zu sagen. Sie hob nicht einmal den Kopf,
griff nur nach dem Taschentuch. Dann das Schnappen eines Feuerzeuges,
die Hand hielt ihr nun auch noch eine Zigarette hin. Jetzt
hob sie den Kopf, der Saxophonspieler saß neben ihr
am Tisch. 'Es tut mir leid!’ sagte sie. 'Nein, muss
es nicht, es ist okay!’
Er war kein Student mehr, ganz sicher
nicht, er musste doch älter sein als sie gedacht hatte.
Älter ja, aber noch immer jung, viel zu jung. Zu jung
für sie. Immerhin wurde sie übermorgen 42. Was dachte
sie da eigentlich? Zu jung wofür? Ihr stand nicht der
Sinn nach Aufriss, nach Begleitung, die Wunden waren noch
so frisch, sie leckte und pflegte sie tagtäglich wie
ein weidwundes Reh. Er, ihr Mann, hatte ihr den Boden unter
den Füßen weggezogen, mit einem Ruck! Es kümmerte
ihn nicht, was sie dachte, was sie wollte, gar nicht kümmerte
ihn das. Und warum tat es dann so weh? Erneut kam ein Strom
von Tränen. Die Hand, die ihr zuerst das Taschentuch
und dann die Zigarette gereicht hatte, legte sich auf ihre.
Sie zog sie nicht zurück, nahm die Wärme dankbar
wahr. Hob den Blick zu seinem Gesicht, das nahe war, sehr
nahe. 'Er ist es nicht wert!’ Erschrocken richtete sie
sich auf. Konnte man in ihr lesen wie in einem offenen Buch?
'Er ist es nicht wert, dass du so traurig bist!’ Sie
schloss gequält die Augen. Er wusste gar nichts! Er war
mitten drin im Leben, sie war eine Außenseiterin, hatte
sich verkrochen, seit all die sogenannten Freunde ihr den
Rücken kehrten, immer Ausreden parat, wenn sie jemanden
treffen wollte. Heute hatte sie in einem Anflug von Aufbäumen
diesen Film im Kino gesehen, aber jetzt war ihr, als hätten
die Mächte der Dunkelheit sie schon lange verschlungen.
Sie saß in einer halbleeren Bar, heulte und ließ
sich die Hand von jemandem halten, den sie gar nicht kannte.
'Weißt du, dass du wunderschön
bist?’ Was bildete er sich ein? War er verrückt?
Sie wollte ihre Hand wegziehen, ihn bitten, sie in Ruhe zu
lassen. Es begann leise zu hämmern, direkt hinter ihren
Schläfen. Kopfschmerzen. Auch das noch! Kein Wunder,
es war so viel Rauch hier drinnen, und sie rauchte auch.,
wieder, dabei hatte sie doch aufhören wollen. Was
hast du gesagt?’ 'Dass du schön bist!’ Seine
schlichten Worte rührten etwas in ihr. Etwas, das längst
vergraben gewesen war, einen Kern tief in ihr. 'Unsinn!’
schalt sie sich innerlich, 'Lass dich nicht einwickeln von
diesem Jungen.’ Der Druck seiner Hand, nicht unangenehm,
fast prickelnd. Die Ernsthaftigkeit in seinem Blick, die Augen
fest auf sie gerichtet. 'Wie alt bist du?’ 'Ist das
wichtig?’ Sie schüttelte leicht den Kopf. Konnte
es nicht begreifen, was da vor sich ging, spürte plötzlich
den Wunsch, auch seine Hand zu drücken.
Er stand auf, zog sie mit sich, warf
einen Geldschein auf den Tisch. 'Komm’, wir gehen!’
Raus auf die Straße, in die Nacht hinein. Nur für
einen kurzen Moment dachte sie, was nun wohl kommen würde.
Sie wusste es jedoch genau und sie wusste im gleichen Augenblick,
dass sie es geschehen lassen wollte. Schweigend liefen sie
durch die Straßen, sie hatte keinerlei Orientierung,
kannte sich in diesem Teil der Stadt nicht aus, ließ
sich mitziehen. Egal, es war egal! Da war diese Hand und die
führte sie und sie hatte mit einem Mal keine Angst mehr,
keine Furcht. Mit jedem Schritt fühlte sie sich leichter,
beschwingter, fast wieder herrlich jung. Als er plötzlich
stehen blieb, prallte sie gegen ihn. Seine Arme umfingen sie,
hielten sie kurz fest, gaben sie wieder frei. Er zog einen
Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, sie drehte sich
um, sah, dass sie in einem Hausdurchgang vor einer Tür
standen. Das leise Klicken des Türschlosses war wie ein
Signal – es gab kein Zurück! Langsam stiegen sie
die Treppe hoch, eng umschlungen, ein Stockwerk, ein zweites.
Noch eine Tür, kein Zurück mehr!
Stunden später, im Morgengrauen,
wartete sie auf das Taxi vor dem Haus. Sie war noch immer
etwas benommen von dem, was sie erlebt hatte. Er hatte ihr
das Gefühl gegeben, so sehr Frau zu sein wie sie es nie
zuvor gefühlt hatte. Alles war behutsam geschehen, fast
wie von Trägheit erfüllt. Doch mit jedem Kuss, jeder
Berührung spürte sie sich mehr denn je erwachen.
Ihre Lebensgeister erwachen. Ja, das war es. Er hatte sie
dem Leben zurückgegeben. Sie wusste, sie würde ihn
nie wiedersehen, sie wusste nicht einmal seinen Namen. Aber
er hatte intuitiv gewusst, was nötig war, als er sie
da in der Bar alleine sitzen gesehen hatte. Es war richtig
gewesen, mit zu gehen. Beim Abschied hatte er ihr zart über
die Wange gestrichen, mit den Fingerspitzen, und leise gesagt:
'Willkommen zurück im Leben!’ Er war jung, aber
er wusste so viel mehr als sie. Sie würde nach Hause
fahren, ausschlafen, und morgen – morgen würde
sie ihr Leben in ihre eigenen Hände nehmen! Das alte
gehörte der Vergangenheit an. Endgültig! Kein Verkriechen
mehr, kein Ausweichen, kein Jammern! Das Leben war schön!