Birgit
schenkte sich ein Glas Wein ein und trat damit hinaus auf den
Balkon. Es war ein lauer Spätsommerabend. Der Lärm
der Stadt drang nur sehr gedämpft zu ihr. Vor vier Jahren,
nach ihrer Scheidung von Thomas, war sie hierher gezogen. Das
große Wohnhaus lag am Rand des Grüngürtels der
Stadt und sie hatte ihre Wohung zu einem kleinen Juwel gestaltet.
Sie brauchte das, um sich wohl zu fühlen. Krimskrams nannte
Gertrud, ihre beste Freundin es manchmal, aber das war auch
schon der einzige Fehler, den Getrud hatte. Ansonsten konnte
Birgit immer voll auf sie zählen.
Der Balkon war zwar klein, aber Birgits
geheimes Paradies. In zwei großen Terracottatöpfen
wuchsen Tomatenstauden, aus den Blumenkistchen streckten sich
ihr violette Palargonien und blassrosa Geranien entgegen.
Dazwischen rankten sich kleine gelbe Sonnenröschen und
Elfengold. Sie entzündete das Windlicht auf dem kleinen
Tischchen und kuschelte sich in den Schaukelstuhl, denn wenn
ihr Balkon auch klein war, der Stuhl und das Tischchen hatten
Platz.
Kaum hatte sie es sich gemütlich
gemacht, sprang auch schon Khan auf ihren Schoß. Gedankenverloren
streichelte sie ihren Stubentiger, was dieser widerrum mit
einem lauten und wohligen Schnurren quittierte. Seine Pfoten
streckten sich ihrem Gesicht entgegen und er berührte
sie sehr sanft, ließ seine Krallen eingezogen. Er schaute
sie aufmerksam an und einen Augenblick lang dachte sie, er
wisse genau, dass sie traurig war. Khan tröstete sie.
Sie nippte am Wein. Rot und schwer,
ein französischer Wein, ein Barrique. In Gedanken ließ
sie den Tag Revue passieren. Die Besprechungen am Vormittag
waren allesamt zufriedenstellend verlaufen. Sie hatte anschließend
noch zwei Protokolle durchgehen müssen und so gegen 15
Uhr ihren Computer abgeschaltet, um sich im nahen Cafè
eine Melange zu gönnen. Am Abend war sie mit Getrud verabredet,
Kino, irgendwas Lustiges. Zuvor wollten sie Essen gehen und
sich hoffentlich über einen Termin für ein Wellness-Wochenende
einigen können, das sie zusammen Ende des Jahres verbringen
wollten.
Und dann hatte Dieter angerufen. Schon
als sie seine Nummer auf dem Display ihres Telefons sah, klopfte
ihr Herz bis zum Hals. Sein Anruf konnte nur eines bedeuten,
er wollte sie sehen. Ihre Stimme kam ihr belegt vor, als sie
sich meldete, doch seine zärtliche Anrede ließ
sie sofort weich werden. Er hätte heute um 17.30 Uhr
eine Besprechung, ob er anschließend noch bei ihr vorbeikommen
könne, so gegen 19 Uhr? Birgit sagte Dieter zu und Gertrud
ab.
Hastig trank sie ihre Melange aus.
Sie musste überlegen, was sie kochen sollte, musste einkaufen
gehen. Wenn Dieter kam, war er sicherlich noch gefangen von
seinem harten Tag und beim Essen würde er sich entspannen.
Nach dem Essen aber – da gehörte er ihr wenigstens
für die nächsten paar Stunden. Ehe er nach Hause
musste zu Frau und Kindern. Doch darüber zerbrach Birgit
sich jetzt nicht den Kopf. Sie hatte es von Anfang an gewusst
und akzeptiert. Sie war nicht mehr als Dieters Geliebte. Dass
sie ihr Herz an ihn verloren hatte, damit musste sie leben.
Sie kaufte ein, fuhr heim, fütterte
Khan und bereitete anschließend das Abendessen vor.
Es würde ein Steak geben, dazu frisches, knackiges Gemüse
und Ofenkartoffel mit Kräuterrahmsoße. Ein Blick
auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich nicht beeilen musste.
Bis 19 Uhr war noch Zeit. Liebevoll deckte sie den Tisch,
stellte den Wein zum Dekantieren bereit und holte die Kerzen
aus dem Wohnzimmer in die gemütliche kleine Küche.
Überall standen Teelichter und verwandelten ihre Wohnung
in einen geheimnisvollen, fast mystischen Ort.
Jetzt war es neun. Dieter war nicht
gekommen und hatte auch nicht angerufen. Das Gemüse war
nicht mehr knackig, das Steak nicht mehr zart, sondern kalt,
die Teelichter heruntergebrannt und der Wein sehr warm. Gegen
halb acht hatte sie versucht, ihn im Büro anzurufen,
und zu ihrer Überraschung hatte seine Sekretärin
abgehoben. Hr. Bachmaier sei noch in einer Besprechung, ob
sie etwas ausrichten könne? Vermutlich würde die
Besprechung noch eine halbe Stunde dauern.
Das Glas in ihrer Hand war leer, doch
sie war zu träge, aufzustehen und sich nachzuschenken.
Khan war auf ihrem Schoß eingeschlafen. Es war nicht
das erste Mal, dass ihm etwas dazwischen gekommen war und
er eine Verabredung nicht einhalten konnte. Sie musste das
doch verstehen. Seine Position in der Firma seines Schwiegervaters
verlangte von ihm bedingungslosen Einsatz. Und manchmal eben
endlose Besprechungen. Oder plötzliche Geschäftsreisen.
Zahlreiche Termine, die er wahrnehmen musste. Er hatte es
nicht einfach, zumal der Schwiegervater sich noch immer in
die Geschäfte einmischte, obwohl er doch schon weit über
70 war. Und Claudia, seine Frau war ständig mit den Kindern
überfordert. Alles in allem musste Birgit doch verstehen,
dass er wenig Zeit für sie haben konnte.
Ihr Telefon klingelte. Khan ließ
sich nicht davon stören und Birgit überlegte einen
Augenblick lang, ob sie sich melden sollte oder nicht. Als
sie doch abhob, klopfte ihr Herz ganz ruhig und sie spürte
kein Zittern, war sich sicher. Es täte ihm sehr leid,
die Besprechung sei unvorhergesehen ausgeufert und er wäre
jetzt aber auf dem Weg zu ihr. Nur noch fünf Minuten.
Er sagte das so selbstverständlich, dass ihr beinahe
die Luft wegblieb. Aber es machte es für Birgit auch
einfacher, das zu sagen, was sie von dem Moment an gefühlt
hatte, als sie wieder einmal umsonst auf ihn gewartet hatte:
„Ich möchte nicht, dass du noch kommst, ich denke,
du brauchst überhaupt nicht mehr zu kommen!“ Und
sie legte auf und schaltete ihr Telefon aus.